Was ist eigentlich eine Krise?

Die Frage kam mir in den Sinn, als mir mal wieder der Begriff „Software-Krise“ über die Weg lief. Ein Begriff mit dem ich nie richtig glücklich war, nicht nur, aber eben auch weil er in meinen Augen falsch gewählt ist; ein misnomer wie man im Englischen sagen würde. Was also ist eine Krise? Die Antwort ist schnell gefunden, man muß sie nur suchen…

Der Begriff ist über das Lateinische zu uns gekommen und bedeutet im Griechischen „Scheidung“ oder „Entscheidung“. Er leitet sich vom Verb krinein her, das „richten“ oder „entscheiden“ bedeutet. Seine erste Verwendung fand er in der Medizin. Dort versteht man unter einer Krise den Moment im Krankheitsverlauf, in dem die Krankheit ihren Höhepunkt erreicht und es sich entscheidet, ob der Patient leben oder sterben wird.

In dieser Bedeutung läßt sich der Begriff in andere Kontexte übertragen in denen er eine Situation bezeichnet in der ein Umstand soweit eskaliert ist, daß eine Entscheidung getroffen muß. Eine Entscheidung darüber ob die Entwicklung weitergeht oder versucht werden soll sie in eine andere Richtung zu lenken.

Ein gutes Beispiel ist die Cuba-Krise im Herbst 1962. Die Stationierung sowjetischer Atom-Raketen in Kuba stellte die US-Regierung vor die Entscheidung eine permanente unmittelbare Bedrohung zu akzeptieren oder nicht. Gleichzeitig entschied die Handhabung der Krise über den Ausbruch eines atomaren Weltkriegs. Wie die Wikipedia richtig bemerkt, läßt sich eine Krise meist erst nach ihrer Bewältigung als solche identifizieren.

Eine Krise ist also im Grunde genommen ein Punkt auf der Zeitachse. Sie markiert den Kulminationspunkt der Ereignisse, mathematisch gesehen das — gegebenenfalls lokale — Maximum einer Kurve. Nun kann man argumentieren, daß sich dieses Maximum auch über einen gewissen Zeitraum erstrecken könnte. Aber die Bedeutung des Begriffs verlangt, daß eine Entscheidung getroffen wird — auch wenn es die Entscheidung ist keine Entscheidung zu treffen.

Was bezeichnet nun der Begriff „Software-Krise“? Geprägt wurde er auf einer Konferenz die die NATO 1968 in Garmisch abhielt. Tatsächlich wurde dabei auch die alternative Bezeichnung „software gap“ verwendet:

There is a widening gap between ambitions and achievements in software engineering.

Im Wesentlichen ging es darum, daß die Komplexität der Software immer schneller anwuchs und die Software-Ingenieure mit den Mitteln der Zeit mit dieser Komplexität immer schlechter fertig wurden. In den Augen der Konferenz-Teilnehmer — oder zumindest einem Teil derselben — wurde es notwendig, Technik und Arbeitsweise der Software-Entwicklung zu ändern, damit sie mit den steigenden Anforderungen Schritt halten kann. Wenn also der Zeitpunkt für eine Entscheidung — oder Entscheidungen — gekommen war, warum dann nicht von einer Krise sprechen?

Wenn damals der Kulminationspunkt erreicht war, kann man von einer Krise sprechen. Aber es liegt im Wesen der Krise, daß eine Entscheidung — oder Nichtentscheidung — zum Ende derselben führt; in der einen oder anderen Art und Weise. Entweder hätte eine Entscheidung über die Software-Technik den Patienten gerettet oder die weitere Entwicklung hätte in eine Katastrophe geführt. Die Katastrophe ist ausgeblieben — zumindest nach meinen Kenntnisstand. Daher wage ich zu behaupten, daß die Entwicklung der Software-Entwicklung die Krise — wenn sie denn eine solche war — überwunden hat.

Wenn eine Situation über fünfzig Jahre anhält, ohne daß eine Entscheidung zu ihrer Änderung getroffen wird, dann handelt es sich nicht um eine Krise, sondern um einen Zustand.

Das, was heutzutage als „Software-Krise“ bezeichnet, ist ein Zustand und er unterscheidet sich durchaus von der Situation die Ende der 60er Jahre bestand. Die Zeit ist nicht stehen geblieben, Konzepte wurden verbessert und angepaßt, es stehen unglaubliche Mengen von Hilfsmitteln zur Verfügung. Die Entwicklung zeigt, daß die Software-Entwicklung mit den Anforderungen fertig werden kann. Das Problem liegt in den immer weiter steigenden Anforderungen an Kosten und Geschwindigkeit. Software muß immer schneller und immer billiger produziert werden, das hat Konsequenzen. Aber noch ist der Kulminationspunkt nicht erreicht und daher sollte man nicht von einer Krise sprechen sondern von einem Zustand.