Das Zentrum eines Erdbebens liegt üblicherweise unterhalb der Erdoberfläche, weshalb man es auch bisweilen als Hypozentrum bezeichnet. Das Epizentrum hingegen bezeichnet den Ort auf der Erdoberfläche, der dem (Hypo-)Zentrum am nächsten liegt. Oder für Mathematiker: der Punkt an dem die Gerade, die durch Hypozentrum und Erdmittelpunkt definiert wird, die Erdoberfläche schneidet.
Wenn also New York als „Epizentrum der Corona-Krise“ bezeichnet wird, (zur Krise siehe hier), wo liegt dann das Zentrum? Die Frage ergiebt keinen Sinn, weil der Begriff falsch gewählt ist. Man könnte statt dessen vom Brennpunkt sprechen oder ganz einfach vom Zentrum. Mit etwas Nachdenken finden sich noch mehr Worte die korrekt benennen was hier zu benennen ist — aber eben nicht das Wort „Epizentrum“. Das ist in der Tat ein wunderbar eklatantes Beispiel, da der Begriff nicht — wie sonst — nur einfach schlecht gewählt, sondern schlicht und ergreifend falsch ist.
Warum ist das überhaupt wichtig? Und warum soll das für Code-Qualität wichtig sein? Die erste und wichtigste Regel in der Software-Entwicklung ist meiner Meinung nach
Versuche jedes Ding so zu bezeichnen, daß der Bezeichner das Ding so genau wie möglich beschreibt.
Das gilt für jedes Ding: Konzepte, Objekte, Funktionen — was auch immer. Wenn ich Äpfel möchte und von Birnen spreche, dann kommt nichts vernünftiges dabei heraus. Sobald ich aber versuche die Dinge genaustmöglich zu beschreiben, werde ich jede Ungenauigkeit die sich nicht korrigieren läßt als Fehler in meiner gedanklichen Konstruktion erkennen. Das Formulieren von Gedanken formt Gedanken.
Wenn ich mal jemanden auf den falschen Gebrauch eines Wortes hinweise, bekomme ich fast immer die gleiche Antwort: Was macht das schon? Du weißt doch was ich meine.
Wo aber ist die Grenze? Wann ist die Ungenauigkeit so groß daß ein Mißverständnis entsteht? Wieviel Ungenauigkeit kann ich mir in einer Anforderung erlauben, bevor die Umsetzung aufhört den Wünschen des Auftraggebers zu entsprechen?
Das mag ja sein, aber man kann doch darüber sprechen und Mißverständnisse klären, oder?
Natürlich kann man das, aber es setzt voraus, daß der Empfänger der Nachricht immer davon ausgeht daß der Sender nicht recht weiß wovon er eigentlich spricht. Klingt das nach der Grundlage für eine ausgewogene Kommunikation? Und was ist falsch daran vom Verfasser eines Textes — sei es eine eMail, ein Zeitungsartikel oder eine Anforderung — zu verlangen daß er sich darum bemüht zu sagen was er meint? Hat der Hörer nicht ein Anrecht darauf, daß der Sprecher versucht ihn zu erreichen?
Ok, das hört sich ja nun nicht völlig verkehrt an. Und wenn es wichtig ist, also wenn es wirklich darauf ankommt, dann muß man sich natürlich um Genauigkeit bemühen. Aber ist das ein Grund den ganzen Tag mit dem Wörterbuch unter dem Arm herumzulaufen um jeden Malapropismus damit totzuprügeln?
Man frage sich: Wie soll ich — wenn’s drauf ankommt — den genauen Begriff finden, wenn ich das nicht vorher — wenn’s also nicht so drauf ankommt — trainiert habe? Ist es nicht effizienter so ausdauernd zu trainieren, daß die Anwendung zur natürlichen geistigen Bewegung wird, die keine zusätzlichen intellektuellen Kräfte durch Bewußtmachen und Nachdenken verschwendet? Die Sprache kleidet meine Gedanken. Ist es nicht wünschenswert, mit den Worten jederzeit genau das ausdrücken zu können was man denkt? Genauigkeit der Sprache ist — wie Qualität — mehr eine Geisteshaltung, weniger eine Technik.
Und wenn mir der geneigte Leser nun vorwerfen möchte meine Sprache sei manieriert und nehme überhaupt keine Rücksicht auf den Leser, dann hat er damit vielleicht nicht ganz unrecht. Aber ganz sicher hat er dann verstanden, warum es mir so wichtig ist was ich da denke und warum ich mich stets darum bemühe, es mit meinen Worten in Einklang zu bringen.